Der Nachtzug war fast leer. Nur das rhythmische Rattern der Schienen durchbrach die Stille des Abteils. Leon lehnte sich zurück, das schwache Licht über ihm warf goldene Schatten auf seine Zeitung – doch lesen konnte er längst nicht mehr. Seit die Fremde eingestiegen war, war sein Fokus woanders.
Sie war ganz allein. Ein schmales Buch in der Hand, Kopfhörer in den Ohren. Doch immer wieder trafen sich ihre Blicke. Zuerst nur flüchtig – ein kurzes Zucken der Aufmerksamkeit. Doch bald wurde aus Zufall Absicht.
Als sie aneinander vorbeigingen, um Kaffee aus dem Speisewagen zu holen, streiften sich ihre Schultern. Keine Entschuldigung. Nur ein Blick. Lang. Und irgendwie elektrisierend.
„Nachtzüge haben ihre eigene Stimmung, oder?“, sagte sie leise, als sie später wieder an ihm vorbeiging. Ihre Stimme war weich, aber bestimmt. Leon lächelte.
„Wie ein Zwischenraum. Nicht ganz hier, nicht ganz dort.“
„Genau das gefällt mir“, sagte sie, und für einen Moment blieb sie neben ihm stehen. „Vielleicht gefällt mir auch, was gerade hier passiert.“
Sie drehte sich um und ging weiter – langsam, als würde sie erwarten, dass er ihr folgt. Und das tat er.
Im letzten Abteil des Wagens war es dunkel, nur das Licht des Mondes fiel durch das Fenster. Sie stand am Fenster, die Jacke halb offen, ihre Silhouette im Gegenlicht nur zu erahnen.
Leon trat näher. Kein Wort, nur Atmen. Ihre Körper waren sich nah – zu nah, um noch an Zufall zu glauben. Ihre Finger fanden seine, und es war, als hätte ihr Schweigen längst alles gesagt.
Ein Kuss – vorsichtig, weich, suchend. Dann tiefer. Ihre Körper bewegten sich wie von selbst, getrieben von einem inneren Rhythmus. Ihre Nähe war kein Zufall mehr, sondern Entscheidung. Sie entdeckten einander ohne Eile, in dieser Zwischenwelt, in der nur sie beide existierten.
Es war kein wildes Abenteuer, sondern ein Spiel aus Berührung, Spannung und Kontrolle. Jeder Blick, jede Bewegung war gewollt – und doch spontan. Sie flüsterten sich keine Namen zu. Nur leise Seufzer, das leise Rattern des Zuges im Hintergrund.
Als der Morgen graute, war die Fremde verschwunden. Nur der Duft ihres Parfums lag noch in der Luft. Und ein Zettel auf seinem Sitz.
„Manche Nächte vergisst man nie. – L.“